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Digitale Souveränität Europas – Warum der Blick nach vorn wichtiger ist als der Rückspiegel

Europäische Alternativen zu Microsoft, Google oder Amazon Web Services? Der Ruf nach digitaler Unabhängigkeit wird lauter – und oft mit Eigenentwicklung gleichgesetzt. Doch der Wunsch, überall technologisch autark zu sein, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch strategisch riskant. Was Europa stattdessen tun könnte, um seine digitale Souveränität wirklich zu sichern.

Sebastian Büttner

Digitale Souveränität heißt nicht jede Software selbst zu bauen

2021 fragte das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung deutsche Unternehmen, warum sie kaum europäische Anbieter für Software wie Mail, Textverarbeitung oder Videokonferenzen nutzen. Das Ergebnis: 70 Prozent gaben an, es gebe schlicht keine bekannten europäischen Alternativen. Die übrigen nannten in der Regel Funktionalitätslücken als Hauptgrund.

 

Diese Zahlen sind inzwischen fast vier Jahre alt – doch der Markt hat sich seither kaum verändert. Im Gegenteil: Gerade im Bereich der Cloud-Infrastruktur hat sich die Abhängigkeit von außereuropäischen Anbietern weiter verschärft. Der Anteil europäischer Cloud-Dienste in deutschen Unternehmen hat sich in den letzten fünf Jahren von ohnehin niedrigen 27 Prozent fast halbiert.

 

In Zeiten wachsender geopolitischer Spannungen wird aus dieser Schieflage häufig eine einfache Gleichung abgeleitet: Um digitale Souveränität zu sichern, müsse Europa künftig sämtliche Softwareprodukte selbst entwickeln – vom Office-Paket über Kommunikationslösungen bis hin zur Cloud. Das klingt nach einer logischen Konsequenz – ist aber in Wahrheit eine gefährliche Verkürzung. 

 

Digitale Souveränität heißt nicht, alles selbst nachzubauen – sondern durch gezielte Investitionen und starke Partnerschaften die Zukunft zu gestalten – mit Technologien und Lösungen,  die international gefragt sind und technologische Abhängigkeiten zugunsten Europas erzeugen. Denn nur wenn wir eigene, wegweisende Speziallösungen schaffen – etwa in Bereichen, in denen die USA oder China technologisch nicht führend sind – können wir auf Augenhöhe handeln statt abhängig zu sein.

Zudem wäre ein reines Kopieren der Vergangenheit wirtschaftlich unsinnig: Allein ein Office-Paket mit dem Funktionsumfang von Microsoft 365 nachzubauen, wäre ein Mammutprojekt. Es würde Jahre dauern, Milliarden kosten und unzählige hochqualifizierte IT-Fachkräfte binden – und das in einem Markt, der längst von etablierten Standards dominiert wird. Europa würde damit Ressourcen vergeuden, die in anderen Bereichen wesentlich sinnvoller eingesetzt werden könnten: etwa in der Quanteninformatik, der KI für Robotik und den Maschinenbau  oder in jungen Technologiefeldern wie Neurocomputern, Biocomputing sowie maschinell lernender Edge-Hardware.

Was wirklich zählt: Zukunftsfelder strategisch besetzen und gewinnen

Kurzum: Statt Milliarden in den Aufbau alternativer Bürosoftware oder redundanter Cloud-Infrastrukturen zu investieren, sollte Europa gezielt Zukunftsfelder besetzen – dort, wo neue Märkte entstehen, technologische Souveränität realistisch ist und europäische Werte den Unterschied machen. Zum Beispiel bei den folgenden drei Schwerpunkten …

Schwerpunkt 1: Die technologische Führungsrolle in Industrie und Forschung sichern

Europa muss nicht in jedem digitalen Massenmarkt führend sein – wohl aber dort, wo es bereits über starke Grundlagen in Forschung, Maschinenbau und Hightech verfügt. Zwei Felder stechen dabei hervor:

  • Quantencomputing: Mit exzellenten Universitäten, Förderprogrammen wie „Quantum Flagship“ und einer aktiven Startup-Szene (z. B. in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden) hat Europa ein stabiles Fundament. Die Anwendungspotenziale in Medizin, Materialforschung, Logistik oder Kryptographie eröffnen strategische Hebel – insbesondere, wenn europäische Anbieter frühzeitig in industrielle Pilotprojekte eingebunden werden.

  • KI für Robotik: Anders als bei allgemeinen Sprachmodellen dominieren europäische Unternehmen und Forschungsinstitute viele Felder der angewandten Robotik – etwa in der Industrieautomation, in der Pflege oder im Agrarsektor. Kombiniert mit strengeren Datenschutz- und Sicherheitsstandards ergibt sich hier ein Wettbewerbsvorteil: europäische KI-Lösungen, die nicht nur leistungsfähig, sondern auch vertrauenswürdig sind

Schwerpunkt 2:  Kritische digitale Infrastrukturen unter europäischer Kontrolle halten

Digitale Souveränität beginnt dort, wo Staaten und Unternehmen ihre Schlüsseltechnologien verstehen, gestalten und absichern können – insbesondere in sicherheitsrelevanten Bereichen wie Energie, Gesundheit oder Verkehr. Europa kann hier mit offenen Standards und unabhängiger Technologie gegensteuern.

 

  • Open-Source-Security-Stacks: Offene Sicherheitsarchitekturen basieren auf quelloffener Software, deren Funktionsweise transparent dokumentiert und von unabhängigen Expert:innen überprüfbar ist. Anders als proprietäre Lösungen – deren Code oft nur dem Anbieter bekannt ist – erlauben Open-Source-Stacks eine vollständige Kontrolle über Sicherheitsmechanismen, Updates und mögliche Schwachstellen. In kritischen Infrastrukturen wie Stromnetzen, Verkehrssteuerung oder der öffentlichen Verwaltung ist diese Transparenz entscheidend: Sie reduziert das Risiko versteckter Hintertüren, erleichtert Audits und ermöglicht es, Sicherheitsmaßnahmen unabhängig von Drittstaaten zu gestalten. Europa ist hier gut aufgestellt: Mit Initiativen wie dem European Cybersecurity Act gibt es politisch unterstützte Standards und Programme für mehr digitale Unabhängigkeit. Zahlreiche europäische Unternehmen, etwa im Bereich Linux-basierter Systeme, Firewalls, Identity Management oder Betriebssystem-Härtung (z. B. TuxCare, Univention, Secunet), liefern darüber hinaus leistungsfähige, auditierbare Sicherheitslösungen „Made in Europe“.
  • Maschinelles Lernen auf Edge-Devices: Statt Daten an zentrale Server zu übertragen, erfolgt die Auswertung direkt am Gerät – etwa in einem medizinischen Diagnosetool oder einem autonomen Fahrzeug. Zahlreiche europäische Akteure – von spezialisierten Mittelständlern im Embedded-Bereich bis hin zu forschungsstarken Universitäten und Regulierungsbehörden – bringen hier ihre Kompetenzen in Hardwareentwicklung, Edge-Architekturen und Datenschutz zusammen. Diese Kombination ermöglicht technologische Lösungen, die nicht nur leistungsfähig, sondern auch DSGVO-konform sind – ein echter Standortvorteil.

Schwerpunkt 3:  Europa als ethischen Taktgeber in sensiblen Technologiefeldern positionieren

Gerade in Bereichen, die tief in das menschliche Leben eingreifen – etwa Gehirn-Computer-Schnittstellen, Neurotechnologie oder Biocomputing – braucht es mehr als technische Exzellenz. Hier entscheidet sich, ob Technologie dem Menschen dient oder ihn kontrolliert. Europa hat die Chance, in diesen Feldern nicht nur mitzuspielen, sondern Maßstäbe zu setzen – ethisch wie technologisch.

 

  • Brain-Computer-Interfaces (BCIs) und Neurotechnologie: Während Tech-Konzerne in den USA und China oft vor allem die Kommerzialisierung und Kontrolle der Nutzer:innen im Blick haben, liegt in Europa der Fokus stärker auf therapeutischen und medizinischen Anwendungen – etwa in der Behandlung neurologischer Erkrankungen oder bei barrierefreien Interfaces für Menschen mit Behinderungen. Mit einem dichten Netz aus Universitätskliniken, Ethikräten und interdisziplinärer Forschung (z. B. in der Schweiz, den Niederlanden oder Skandinavien) bringt Europa ideale Voraussetzungen mit, um hier ein Gegenmodell zu entwickeln: verantwortungsbewusst, zugänglich und auf die Selbstbestimmung der Nutzer:innen ausgerichtet.

  • Biocomputing und maschinelles Lernen in sensiblen Kontexten: Die Verbindung biologischer Prozesse mit Rechenlogik – etwa durch DNA-basierte Speichertechnologien, synthetische Biologie oder bioinspirierte Algorithmen – eröffnet neue Horizonte in Forschung und Industrie. Auch maschinelles Lernen spielt in diesen Feldern eine Schlüsselrolle, zum Beispiel bei der Genom-Analyse, der personalisierten Medizin oder der Vorhersage ökologischer Entwicklungen. Gerade weil diese Technologien tief in die Privatsphäre eingreifen oder Auswirkungen auf die Umwelt haben können, ist eine verantwortungsvolle Gestaltung entscheidend – was eine der größten Stärken Europas ist. 

    Forschungszentren wie das EMBL in Heidelberg oder das Swiss Institute of Bioinformatics entwickeln neuartige Ansätze zur Genom-Analyse, die nicht nur leistungsfähig, sondern auch datenschutzkonform gestaltet sind. In Projekten wie ELIXIR Europe wird an einer sicheren, europäischen Infrastruktur für biologische Daten gearbeitet – mit Fokus auf Transparenz, Datenhoheit und Zugangsgerechtigkeit. Auch im Bereich GreenTech entstehen spannende Verbindungen von KI und Biotechnologie – etwa bei der Entwicklung bioinspirierter Algorithmen zur Steuerung von Energiesystemen oder zur Analyse von Ökosystemdaten. Startups wie Biomatter Designs aus Litauen zeigen, dass europäische Player an der Schnittstelle von Biologie und KI konkurrenzfähig sind. Europas Vorteil liegt jedoch nicht nur in der Technologie – sondern in der Haltung, mit der diese Technologie entwickelt und eingesetzt wird.

Fazit: Jetzt handeln – statt "hinterherzudigitalisieren"

Digitale Souveränität ist kein Zustand – sie ist ein strategischer Prozess, der kluge Entscheidungen und Mut zur Spezialisierung verlangt. Europa muss nicht überall führend sein, aber dort, wo unsere Stärken liegen, dürfen wir nicht zögern: in der Verbindung aus Forschung, industrieller Tiefe und werteorientierter Technologiegestaltung.

Wer in die Zukunft investiert, statt die Vergangenheit zu kopieren, schafft nicht nur Resilienz – sondern Relevanz. Nicht durch Abschottung, sondern durch Gestaltungswillen und Vertrauenswürdigkeit entsteht echte Souveränität: als Partner auf Augenhöhe, nicht als Nachzügler.

Jetzt ist der Moment, diesen Anspruch mit Leben zu füllen – strategisch, technologisch und politisch. Denn wer Zukunft mitgestalten will, darf nicht abwarten, bis sie woanders entschieden wird.

 


Über den Autor:

Der Autor ist Co-Gründer von Quantum Beyond, einem europäischen Beschleunigungsprogramm für die Digitalisierung von Unternehmen. Unter dem Label Quantum Beyond Infinity liegt der Fokus auf AI-driven Organization Design, datengetriebenen Strategien und der intelligenten Mensch-Maschine-Kollaboration, um Unternehmen zukunftsfähig und wettbewerbsstark für das KI-Zeitalter aufzustellen.